Erlösungsdeadline – ein Tribut an David Bowie. R.I.P.
Erlösungsdeadline eine Geschichte über einen alten Mann, der sich weigert zu sterben. Er flieht aus dem Altenheim und streift durch ein apokalyptisches Berlin, wo er seine letzten Abenteuer erlebt.
Die Geschichte ist inspiriert von David Bowies Songs Five Years (1972), Joe the Lion (1977) und Looking for Water (2003). Five Years handelt davon, was passiert, wenn man weiß, dass die Welt in fünf Jahren untergehen wird. In Joe the Lion geht es um einen Alkoholiker, der in einer Eckkneipe davon schwafelt, sich eine Knarre zu kaufen. In Looking for water nimmt Bowie Bezug auf Nicolas Roegs SF-Kultfilm The Man who fell to Earth (1976), in dem er einen Alien auf der Suche nach Wasser spielte.
Erlösungsdeadline ist zuerst in der von Bowie inspirierten Storysammlung Hinterland (Wurdack-Verlag 2010) erschienen.
Erlösungsdeadline
Janus starrte auf den mindestens acht Quadratmeter großen Wandbildschirm. Meistens lief der Küchenkanal. Von morgens bis abends erklärten irgendwelche Semiprominenten, wie man einen Insalata Caprese, Köfte oder Blumenkohlkrapfen zubereitete. Janus hatte keine Ahnung, wer für so etwas Geld haben sollte. Er lauschte dem selbstvergessenen Schmatzen um sich herum. Besonders die Männer gaben damit an, was sie früher am Herd alles gezaubert hatten, als Essen noch bezahlbar war. Die mit selbstreinigenden Bezügen ausgestattete Sitzgruppe neben Janus war mit ein paar Frauen besetzt, die über die Anwendungsmöglichkeiten ihrer Heizdecken diskutierten. Eine Frau in einer blauen Kunstseidenbluse hockte zusammengesunken in ihrem Rollstuhl, nickte unablässig und krähte zu allem, was gesagt wurde: „Jaajaa.“
Plötzlich wurde es für einen Moment still im Fernsehraum, alle Köpfe wandten sich dem Bildschirm zu. Janus hatte die Werbung in den letzten Wochen schon mindestens hundertmal gesehen. Sie faszinierte ihn, obwohl er sie hasste, wie alles. Außer seiner Enkeltochter. Seiner Meinung nach war sie das einzige liebenswürdige Geschöpf auf diesem Planeten. Janus wünschte inständig, es wäre Zeit für seine Pillen, als der bildschirmfüllende Countdown erschien, der die nächsten fünf Jahre hinunter zählte. Kurz darauf erschienen die attraktiven, jungen Gesichter, in allen Hautfarben. Sie wurden weich eingeblendet, sagten einen Satz oder einen halben, wurden dann wieder ausgeblendet, um Platz für das nächste Gesicht zu machen. Sie sprachen vor dem Hintergrund der Katastrophen, die die Welt hinreichend kannte: Konventionelle Kriege, Cyberkriege, Nanokriege, Atomkriege, Stromausfälle, Erdölneige, Inflation, Klimawandel, Hungersnöte, Seuchen, Stürme, Dürre, Überschwemmung, … Die schönen Gesichter sagten, was jeder wusste: Kein Staat der Welt, keine Kirche und keine Philosophie hatte es geschafft, dies alles abzuwenden. Trotz allem, oder vielleicht gerade deswegen, geschah dies alles. Soweit nichts Neues und nicht besonders erschütternd. Wenn dieser Kontrast nicht gewesen wäre: Die jungen Gesichter wirkten vor all dem Elend wie Engel oder Übermenschen, weise Besucher von einem anderen Stern. Sie waren so jung, so gut. Ekelhaft fand Janus das, und trotzdem konnte er nicht weggucken. Jetzt kam es gleich, seine Fäuste ballten sich, bis die Adern blau hervortraten.
Doch es gibt eine Lösung. Wir alle sind Teil dieser Lösung. Wir sind keine Sekte, wird sind ein legales Wirtschaftsunternehmen, das von normalen Leuten geleitet wird. Normale Leute wie Sie und ich können etwas verändern. Wir sind keine Hippies, wir sind Geschäftsleute, und wir werden die Lösung wie Geschäftsleute anpacken: Mit Milestones und einer Deadline und Mitarbeitern, die echte Verantwortung tragen. Übernehmen Sie Verantwortung – und profitieren Sie davon. Geben Sie uns Ihr Versprechen.
Dann ein junger Chinese: „Ich verspreche, die Welt zu retten – innerhalb der nächsten fünf Jahre.“ Eine junge Weiße: „I promise to cause world-salvation within five years.” Ein junger Araber: „Ich verspreche, die Welt zu retten – innerhalb der nächsten fünf Jahre.” Ein kleines Mädchen aus Indien: „I promise to cause world-salvation within five years.”
Und so weiter. Janus hätte brechen mögen. Pures Business. Aber vielleicht hatten diese Salvationisten sogar recht, vielleicht konnte man dem Ausverkauf der Welt am Ende nur entgegen treten, indem man sie kaufte.
We promise to cause world-salvation until 1st of january 2032.
We give salvation a deadline.
Das Gesicht der blonden Sprecherin wurde ausgeblendet, die Katastrophenbilder steigerten sich zu einer Kakophonie, bevor sie sich in sanfte Blau- und Grüntöne auflösten.
„Wir wissen, Sie wollen dabei sein. We know you want to join.” Eine Webseite wurde eingeblendet. “Be part of the movement that will change our world. Your world. The world of your children.”
Einige der Alten zückten ihre Personal Management Center, scannten die eingeblendete Adresse und speicherten sie. Wahrscheinlich hatten sie vergessen, dass sie dasselbe schon etliche Male gemacht hatten. Janus hatte Durst. Er drückte auf den Knopf, der in seinen Sessel eingelassen war, und eine Minute später kam eine Pflegerin aus irgendeinem Schwellenland und fragte in gebrochenem Deutsch, was er brauchte.
„Wasser, ich brauche Wasser.“ Janus’ Stimme klang brüchig in seinen Ohren. Die Stimme eines alten Mannes. Die Plastikflasche mit gechlortem Supermarktsprudelwasser stand vor ihm auf dem Tisch. Darum herum waren ordentlich fünf Gläser gruppiert, mit der Öffnung nach unten auf einer Serviette, damit man wusste, dass sie noch nicht benutzt waren.
„Wasser hier.“
„Das ist mit Sprudel. Wie oft muss ich noch sagen, dass ich davon Koliken bekomme.“
Die Pflegerin verstand ihn offensichtlich nicht.
„Ich will Wasser. Echtes Wasser, klar?“
Die Pflegerin zog ein säuerliches Gesicht, öffnete die Flasche, ein Zischen entwich. Sie knallte ein Glas vor Janus auf den Tisch und goss ihm Sprudelwasser ein. Dann schraubte sie die Flasche sorgfältig zu und ging hinaus.
Janus trank und rülpste demonstrativ. Wo Alice und Lura nur blieben. Sie hatten ihn seit Neujahr nicht besucht. Seit drei Wochen und vier Tagen. Er erinnerte sich genau an ihren letzten Besuch, sein Kurzzeitgedächtnis war in bester Ordnung. Sie hatten an diesem Tisch gesessen, seinem Stammplatz, Alice hatte Kaffee und aufgetaute Ananastorte aus der Kantine geholt, sie hatten sich eine verlogene Neujahrsansprache, Kochsendungen und Werbung für Aufbauproteine angesehen. An diesem Tag hatte Janus auch zum ersten mal die Salvationistenwerbung gesehen, während er Lura die Haare zu winzigen Zöpfen flocht. Dann hatte Alice gesagt: „So, Papa, gleich gehen wir auf dein Zimmer, dann mach ich dir noch die Fußnägel, bevor sie wieder einwachsen, und dann sind zwei Stunden rum. Dann ist auch genug.“
Ja, dann war es genug. Janus war aufgestanden, hatte sich artig für Kaffee und Kuchen bedankt und sich verabschiedet. „Ich bin müde. Die Fußnägel macht eine Pflegerin.“ Dann hatte er sehr aufrecht den Fernsehsaal verlassen. Sehr entschlossen. Lura hatte ihm mit ihrer hellen, achtjährigen Stimme „Tschüss, Opa“ hinterhergerufen.
Ein paar Minuten später hatte sie an seine Zimmertür geklopft, sie einen Spalt breit geöffnet und ihre Nase ins Zimmer gesteckt, aber Janus hatte sich schlafend gestellt. Sie war hereingekommen, hatte eine Weile unschlüssig an seinem Bett gestanden. „Schläfst du, Opa?“
Mach die Augen auf, alter Mann, hatte er zu sich selbst gesagt, was kann denn das Mädchen dafür? Sie ist das einzige, was du hast. Aber er hatte es nicht gekonnt. Erst als Lura fort war, hatte Janus die Augen geöffnet. Vor ihm auf dem Nachttisch stand eine Literflasche Jägermeister.
Alice hatte es einfach nicht begriffen. So wie sie nicht begriff, dass man Kinder nicht jede Nacht irgendwo anders hin abschieben konnte, damit sie in Ruhe Party machen konnte. Er konnte seine Sucht nicht beherrschen, konnte nicht einfach einen „Kleinen“ oder „Kurzen“ nach dem Essen trinken. Wenn er anfing, dann zog er es durch. Alice wusste nicht, wie es war, morgens eine gelbliche, stinkende Flüssigkeit aufs Kopfkissen zu würgen, sich zitternd in den Bademantel zu wickeln, zum nächsten Stehausschank zu schleichen und gegen die Entzugserscheinungen anzutrinken. Sie wusste nicht, wie es war, wenn man die Kontrolle verlor. Jeden morgen, wenn er aufwachte, verneigte er sich vor dem Alkohol und kapitulierte. Er würde sich nicht mehr auf einen Kampf mit ihm einlassen. Er würde den Jägermeister einfach ignorieren.
Alice war eine Spätgebärende, ein Unfall, Vater unbekannt. Janus war so glücklich gewesen, als er das kleine Wesen mit dem Namen Lura zum ersten Mal im Arm halten durfte. Das vorletzte Mal war er kurz vor ihrer Geburt abgestürzt. Danach hatte er an Lura alles gut zu machen versucht, was er an Alice versäumt hatte. Er hatte Lura geliebt. Und dann waren sie plötzlich weg gewesen, ohne ein Wort. Er hatte Wochen lang nach ihnen gesucht. Dann war er zum letzten Mal abgestürzt und hier eingeliefert worden.
Alice war mit Lura zu einem Liebhaber gezogen. Bis es wieder gekracht hatte. Sie waren von einem Tag auf den andern wieder da gewesen. Als ob nichts geschehen sei.
Janus machte sich Sorgen. Und er nahm sich seit Neujahr jeden Tag vor, den Jägermeister in den Ausguss zu schütten. Er schaffte es nicht, obwohl seine bloße Anwesenheit ihn ängstigte. An den meisten Tagen konnte er sie vergessen. Nur gerade heute … Alice hatte es nie begriffen.
Plötzlich wurde die Tür des Fernsehsaales aufgerissen und eine von den Pflegerinnen brüllte durch den ganzen Raum. „Wer gesehen Frau Niebeling? Frau Niebeling hier?“
„Nee, den ganzen Tag noch nicht“, rief ein Männchen mit heller Stimme.
Frau Niebeling lebte in der Wahnvorstellung, sie sei unschuldig zum Tode verurteilt und sollte hingerichtet werden. „Isse euch wieder abgehauen?“, fragte eine Frau und lachte keckernd. Die Pflegerin knallte die Tür zu. Einige der Anwesenden fingen an, Wetten darauf abzuschließen, wann sie Frau Niebeling diesmal einfangen würden.
Janus wandte sich einer Dauerwerbesendung für Gesichtscreme mit Nanorobotern zu, welche die Kollagenschicht reparieren sollten. Er nahm sein PMC aus der Tasche seiner Jogginghose, scannte die eingeblendete Nummer, bestellte drei Tiegel und erhielt ein Augengel gratis dazu. Der Betrag wurde ohne Umschweife von seinem Konto abgebucht, er konnte die Bewegung des imaginären Geldes auf seinem Display verfolgen. Wenigstens ein Geburtstagsgeschenk zum Achtzigsten, dachte er und lachte kurz auf.
Dann ging er in sein Zimmer. Ein Bett mit Haltegriffen. Ein kleiner Sessel am Fenster mit Ablagebrett an der Wand, ein Schrank über Kopf, eine eigene Nasszelle. Alles auf gut sechs Quadratmetern, weniger als ein Fernseher, dachte Janus. Und damit hatte er es noch außerordentlich gut.
Janus zog den Jogginganzug aus und nahm so viel Abstand von der Spiegeltür der Nasszelle wie es in dem engen Raum möglich war. Nicht mehr viel übrig, dachte er. Ein paar dünne Beine mit dicken Knien. Knochige Arme, an denen die Haut schlaff hinunter hing. Ein langer, immer noch stabiler Hals. Der Bauch leicht vorgewölbt. Ein Froschbauch. Aber er hatte eine sehr aufrechte Haltung, wie Christopher Lee bis ganz zum Schluss. Und volles, dichtes Haar, kaum ergraut. Als hätte sein Haar vergessen, mit ihm alt zu werden. Aber gut, es gab schlimmeres. Die falschen Zähne zum Beispiel. Ein strahlend weißes, billiges Modell, das in seltsamem Widerspruch zu seinem alten Mund stand. Manchmal, wenn die Pflegerin vergaß, ihm neue Haftcreme ins Bad zu legen, schob es sich vor und zwang ihn zu einem Dauergrinsen bei gleichzeitig herunter gezogenen Mundwinkeln.
Janus ging in die Nasszelle und spülte seine Abendpillen die Toilette hinunter. Er würde sie heute nicht brauchen. Dann öffnete er den Schrank und nahm die Sachen heraus, die er getragen hatte, als man ihn hier eingeliefert hatte, volltrunken, vollgepisst, geistig umnachtet. Röhrenjeans, Chucks, eine schwarze Bikerjacke. Ein Designerstück aus den siebziger Jahren, er hatte sie sein ganzes Leben lang getragen, und er war stolz darauf, dass er nie zu fett dafür geworden war. Von hinten würde er in diesen Klamotten wie ein Mittfünfziger wirken, aber nicht wie jemand, der heute achtzig geworden war. Wenigstens Lura hätte Alice herbringen können, wenigstens für eine Stunde. Sie hatte eine Menge von ihm – die haselnussbraune Mähne, die grünen Augen, die Intelligenz. Er musste auf sie acht geben, er traute Alice nicht. Sie kümmerte sich manchmal Tage lang nicht um das Kind. Nur wegen Lura war Janus trocken.
Janus schaltete sein PMC aus und steckte es in die Hosentasche. Dann nahm er seinen alten Armeerucksack aus dem Schrank, packte Kamm, Zahnbürste, Tabletten und Haftcreme hinein. Ein paar Anziehsachen zum Wechseln. Und die Literflasche Jägermeister, die er sorgfältig in ein fadenscheiniges Handtuch mit dem Aufdruck „Seniorenresidenz Mauerblick“ wickelte.
Als er mit packen fertig war, setzte er sich in den Sessel und wartete. Auf Station Eins waren nur die, die noch klar kamen. Vor morgen früh würde ihn niemand belästigen. Als alle in ihren Betten lagen, bis zur Halskrause voll mit Pillen, als Janus auch keine Pflegerinnen in Badelatschen mehr herumschlurfen hörte, öffnete er das Fenster und blickte auf die Straße hinab. Die Bernauer war die ganze Nacht hindurch stark befahren. Trams, Elektroautos, Fahrradrikschas, Frittenfetttaxis, Pferdekutschen und sogar der eine oder andere Benziner. Direkt an Janus’ Fenster lief die Regenrinne vorbei. Er beschloss, dass sie seine nicht mal sechzig Kilo aushalten würde, schulterte seinen Rucksack, schwang die Beine übers Fensterbrett und griff danach. Er durfte nicht versuchen zu klettern, die Kraft würde er nicht aufbringen. Aber wenn er sich an der Regenrinne festhielt und mit den Füßen an der Wand abstemmte und sich in zwei oder drei Schwüngen nach unten gleiten ließ, dann müsste er die drei Meter bis zu dem winterbraunen Grasstreifen vor dem Haus überstehen. Er hatte so etwas früher schon gemacht, mit Pomade im Haar und hochgestelltem Kragen. Viel früher. Janus holte tief Luft und ließ sich fallen.
Der Schmerz, der in seinen rechten Knöchel biss, war überraschend scharf. Janus rollte sich ab und blieb stöhnend liegen. Er horchte in sich hinein, aber bis auf den Knöchel fühlte er sich ganz an.
Janus setzte sich auf und begutachtete den Schaden. Kein Blut, aber als er den Fuß abtastete, stöhnte er vor Schmerz. Er öffnete den Rucksack, wickelte die Jägermeisterflasche aus dem Handtuch und betrachtete sie. Erstaunlich, was Glasflaschen alles aushielten. Dann riss er das altersmorsche Handtuch in Streifen, die er sich fest um den Knöchel wickelte und verknotete. Das hatte wahrscheinlich mehr einen psychologischen als einen praktischen Wert, aber es gelang Janus aufzustehen und zwischen den Fahrzeugen hindurch über die Bernauer Straße zu humpeln. Er wollte zu Simon im Wedding. Der Einzige, der ihm nach seinen Abstürzen treu geblieben waren. Von dort aus würde er weiter sehen. Vor allem wollte er Lura sehen, wollte wissen, dass alles in Ordnung war. Warum hast du sie dann nicht einfach angerufen, du alter Idiot, dachte er, statt dir den Knöchel zu verstauchen. Weil Alice seit Wochen die Mailbox dran gehen lässt und nicht zurück ruft. Ach was, du hast es einfach nicht oft genug versucht. Idiot.
Janus humpelte durch den Mauerpark, wo einige Obdachlose in ihren Schlafsäcken lagen. Die Temperaturen waren selbst für einen Klimawandeljanuar ungewöhnlich mild. Nach dem Park bog er nach links Richtung Gesundbrunnen ab. Er kam nur langsam voran, doch je weiter er ging, desto deutlicher fiel ihm die Veränderung auf, die seit seiner Einlieferung vor sich gegangen war: Die Salvationisten waren allgegenwärtig, auf Plakaten, auf Bildschirmen, in Schaufenstern, und in Gesichtern, die das Bewusstsein ausstrahlten, ein guter Mensch zu sein. Janus wäre gerne gefahren, er hatte schon die Hand gehoben, um eine Rikscha anzuhalten, als ihm einfiel, dass er nicht bezahlen konnte. Bargeld war lange passé, und sein PMC konnte er nicht benutzen. Sobald man ihn im Heim vermisste, würden seine Transaktionen überwacht werden, und dann würde es keine zehn Minuten dauern, sie würden ihn einkassieren und zurück bringen. Er musste sich ohne Geld behelfen. Bis er eine Lösung fand.
Zwei Stunden später erreichte Janus das Löwenjoe. Vor der Tür stand ein Mann mit einer verspiegelten Brille und rauchte. Janus kannte ihn nicht, aber man sah auf den ersten Blick, dass es sich um einen Bullen handelte. Niemand sonst würde mitten in der Nacht mit solch einer Brille rumlaufen. Es hieß, dass sie Informationen über die Menschen anzeigten, die man dadurch ansah. Aber das war vielleicht nur ein Gerücht. Janus hoffte trotzdem, dass man sein Fehlen noch nicht bemerkt hatte.
Drinnen stand Simon hinter der alten Eichenfurniertheke, wie immer, zapfte und schenkte Kurze ein. Der Laden war gut besetzt, der Geräuschpegel entsprechend hoch, im Fernsehen liefen Sportnachrichten. Es roch intensiv nach Alkohol und altem Schweiß. Wenigstens hier keine Salvationisten in der Glotze, dachte Janus, setzte sich auf einen schmierigen Barhocker und tastete vorsichtig seinen Knöchel ab. Inzwischen war er geschwollen und pulsierte heftig. Er würde sich ausruhen müssen. Als Simon zu ihm herüber blickte, machte Janus sich bemerkbar.
„He, Simon!“
Offenbar brauchte Simon einen Moment, bis er ihn erkannte. War er tatsächlich so stark gealtert im Heim?
„Janus?“
Simon kam herüber und grinste ihn mit seinen braunen Zähnen breit an. „Mensch, Alter! Ich hätte dich fast nicht erkannt, so rasiert und frisch gepudert! Wo warst du denn?“
Janus zuckte die Schultern. „Lange Geschichte. Hast du Eis da?“
„Erdbeer vielleicht noch, das ist aber noch vom Sommer, würde ich dir nicht empfehlen.“
Janus schüttelte den Kopf. „Ich meine richtiges Eis, das man in Drinks tut.“ Er zeigte auf seinen Fuß, den er sich quer übers andere Knie gelegt hatte. „Ich habe mir wehgetan.“
Simon lachte. „Mal wieder im Suff auf die Fresse gelegt?“
„Hast du nun Eis?“
Simon verschwand unter der Theke und begann in seinen Kühlfächern zu kramen. Dann kam er mit einer Flasche Wodka wieder hoch. „Ich hab nur den. Kalt genug ist er.“
Simon schenke sich und Janus von dem Wodka ein. Dann legte Janus die Flasche auf seinen Knöchel. Die Kälte war durchdringend, aber der Schmerz begann nachzulassen.
„Prost“, sagte Simon und kippte den Wodka. Janus griff reflexartig ebenfalls nach seinem Glas, und als ihm der Duft des Wodkas in die Nase stieg, überfiel ihn eine fast schmerzhafte Sehnsucht, ihn zu trinken. Tu nur das, was du wirklich willst, sagte er sich. Immer. Janus wusste, was er wirklich wollte: Rausfinden, ob es Lura gut ging. Wenn er jetzt trank, dann würde dieses Ziel in unerreichbare Ferne rücken. Janus atmete den Alkoholgeruch aus und stellte das Glas sorgfältig vor sich hin.
„Willst du was anderes?“
Janus versuchte zu lächeln. „Ich hab mein PMC nicht mit. Ich kann nicht zahlen.“
„Mensch Alter, der geht aufs Haus, so tief stecken wir nicht im Dreck.“
„Ich nehme auch gerade Medikamente, die vertragen sich nicht damit. Hast du vielleicht Kaffee? Ich bin ziemlich müde.“
Simon sah ihn ratlos an, löffelte aber löslichen Kaffee in einen Becher und machte sich dann daran, den Wasserkocher zu füllen. Er sah aus, als sei er länger nicht benutzt worden.
„Mit Schuss?“, fragte er über die Schulter.
„Nein, Danke.“
„Komm schon Janus, oller Eisenhans, seit wann säufst du nicht mehr?“
Janus blieb die Antwort schuldig. Es hatte keinen Sinn, darüber zu reden. Was er jetzt brauchte, war Ruhe zum Nachdenken. „Kann ich mich vielleicht für ein paar Stunden auf dein Sofa hauen?“
Als Simon Janus den Kaffee über die Theke schob, sah er ihn durchdringend an. „Hast du was ausgefressen, Alterchen?“
„Nein. Ich hab mich nur — mit meiner Tochter gestritten.“ Janus ärgerte sich, dass er sich nicht bereits auf dem Weg hierher eine Geschichte zurecht gelegt hatte.
„Na schön. Da, hinter dem Vorhang. Ist aber eigentlich für die Schnapsleichen.“
Janus bedankte sich und trank seinen Kaffee mit viel Zucker. Das Gespräch mit Simon verebbte. Janus wusste, dass es anders wäre, wenn er trinken würde, und er registrierte ein ängstliches Flattern in seiner Magengegend. Er fühlte sich leer und hohl, und er musste dieses Gefühl einfach ertragen. Vielleicht war es ein Fehler gewesen, hierher zu kommen.
Die Tür des Löwenjoe ging auf. Für einen Moment drang monotoner Singsang von der Straße herein, an- und wieder abschwellend. Ein bulliger Mann um die Vierzig kam herein, er trug einen sandfarbenen Mantel und hatte einen Stapel Broschüren in der Hand. Außerdem hatte er eine lange Schnittwunde mitten auf dem kahlen Schädel. Blut sammelte sich in seinen Augenbrauen, lief seitlich an Nase und Kinn hinab und tropfte auf seinen Mantel.
Die Dialoge an der Bar verstummten, die Gäste starrten den Mann an, manche verdutzt, manche mit feindselig in die Hüften gestemmten Armen.
„Scheiße“, sagte Simon. „Wir kaufen hier keine Pennerzeitschriften, verzieh dich wieder.“
Der Mann lächelte, legte sein PMC neben Janus auf die Theke. „Eine Runde für alle, bitte.“
Simon sah ihn misstrauisch an, führte die Bestellung aber aus. Keiner sagte etwas.
„Darf ich das hier auslegen?“, fragte er und hielt die Broschüren hoch.
„Was haste denn für’n Dreck?“
Der Mann setzte zu einer Erklärung an, aber Simon winkte ab. „Lass stecken, ist mir egal. Da neben der Tür ist ein Ständer, da kannste die mit rin stecken.“
„Danke“, sagte der Mann höflich und deponierte seine Broschüren an einer gut sichtbaren Stelle. „Auf Wiedersehen.“
„He du!“, rief Simon ihm hinterher. Der Mann blieb stehen. „Du blutest.“
Der Mann lächelte, und wieder drang der an- und abschwellende Singsang für einen Moment herein, als er das Löwenjoe verließ. Simon hob sein Glas. „Na dann, Prost. Auf den blutenden Mann.“
Einer von Simons Gästen, über dessen Bierbauch sich ein grauer Synthetikpullover spannte, hatte eine der Broschüren aufgeschlagen. „He, soll ich euch die Zukunft voraus sagen?“, rief er von der Tür her. „Noch fünf Jahre, dann ist Ende mit saufen. Dann sind wir nämlich erlöst!“ Er lachte schallend.
Saufen für die Salvationisten. Überall waren diese Irren unterwegs, aber niemand schien zu wissen, was die eigentlich wollten. Erlösung in fünf Jahren. Und dann? Janus rutschte von seinem Hocker, humpelte zu dem grünen Filzvorhang im hinteren Teil der Bar, setzte sich auf das durchgelegene Kunstledersofa dahinter, wickelte seinen Knöchel wieder in den Handtuchstreifen und versuchte, den Fernseher und die betrunkenen Männer im Löwenjoe zu überhören. Morgen früh würde er zu Luras Schule gehen, er würde sie auf dem Schulhof abpassen. Wenn sie nicht in seine Anstalt kam, ging er eben in ihre. Janus hielt sich an diesem Gedanken fest, während er langsam in den Schlaf hinüber glitt.
Der folgende Tag war trübe und schwül wie im Sommer, aber an so etwas hatte man sich in den letzten zwanzig Jahren gewöhnt. Janus zog den Reißverschluss seiner Jacke auf. Sein Fußgelenk war über Nacht schlimmer geworden. Simon hatte ihm kurzerhand ein Stück Kupferrohr aus der Heizungsanlage ausgebaut.
„Brauchen eh keine Heizung mehr.“
Janus konnte sich gut darauf abstützen, aber er kam trotzdem nur langsam voran. Und er war nervös. Noch ein Stückchen weiter, dann geradeaus in die Gartenstraße. Rechts war die Schule, ein bunt bemalter Flachbau für Kinder von Leuten, die sich noch was leisten konnten. So wie Alice. Ja, sie verdiente gut mit ihren Partys. Ohne Alice wäre es auch für ihn nicht das Seniorenstift „Mauerblick“ geworden, sondern ein Schlafsaal ohne medizinische Versorgung. Bis man für immer einschlief. Janus hasste den Gedanken, dass er Alice dankbar sein musste, und Alice ließ es ihn spüren, dass er versagt hatte. Finanziell. Und als Vater.
Janus’ PMC zeigte viertel nach neun. Er betrat den Schulhof und setzte sich steifbeinig auf eine Bank neben der Tür. Zehn Minuten später war es soweit, Janus zuckte unwillkürlich zusammen, als direkt über ihm neben der Tür eine richtige, altmodische Glocke schrillte. Die ersten Kinder kamen heraus, gelangweilt schlendernde kleine Menschen, ordentlich angezogen, mit vernünftigen Gesichtern. Privilegiert, arrogant. Manche blickten ihn unsicher an, tuschelten, gingen schnell weiter. Janus betrachtete sie alle ganz genau, aber Lura war nicht dabei.
Vielleicht gibt es noch einen anderen Ausgang, überlegte er, als der Strom verebbte. Vielleicht ist sie hinten heraus gekommen. Janus stützte sich auf sein Kupferrohr und wollte aufstehen, als plötzlich ein Wachschutzmann mit getönter Brille und Bomberjacke vor ihm stand.
„Haben Sie eine Berechtigung, sich hier aufzuhalten? Wie sind Sie überhaupt reingekommen?“
Janus lächelte. Zum Glück war er nüchtern geblieben, er hätte sonst nicht die geringste Chance gehabt, diese Situation zu meistern. „Ja, meine Enkelin geht hier zur Schule.“
„Können Sie sich ausweisen?“
Janus klopfte demonstrativ seine Jackentaschen ab. „Ich fürchte, ich habe mein PMC nicht dabei. Meine Enkelin heißt Lura Kuper, sie geht in die zweite Klasse.“
Der Mann schwieg einen Moment und betrachtete ihn intensiv durch seine Brille.
„Wissen Sie, es wäre besser, wenn Sie sich keine Geschichten ausdenken. Ich muss Sie bitten, den Schulhof zu verlassen. Sie haben keine Berechtigung, sich hier aufzuhalten.“
„Bitte, ich muss sie sehen, es ist wichtig.“
Der Wachmann sah Janus skeptisch an. Dann sagte er, „Na gut, ich sehe nach.“ Er zog sein PMC aus der Bomberjacke. „Wie hieß die Kleine?“
„Lura Kuper. K-U-P-E-R.“
Der Wachmann blickte auf sein Display und ging die Schülerliste durch. Dann schüttelte er den Kopf. „Tut mir Leid, Lura Kuper hat die Schule vor zwei Wochen verlassen.“
Der Wachmann steckte sein PMC zurück in die Jacke und öffnete beiläufig den Verschluss der Waffentasche an seinem Gürtel. „Ich muss Sie bitten, den Schulhof jetzt zu verlassen.“
Janus nickte benommen und gehorchte.
Vor dem Tor blieb er stehen. Verlassen. Vielleicht war doch etwas passiert? Janus’ Herz begann zu rasen. Er bekam keine Luft und vor seinen Augen tanzten winzige Silberblitze. Er stützte sich am Zaun ab, aber der Wachmann wies ihn zurecht. „Jetzt machen Sie aber, dass Sie weg kommen!“
Janus schaffte es bis zum Supermarkt zwei Häuser weiter. Dort setzte er sich auf die Stufen und schloss die Augen. Was jetzt? Als er spürte, dass jemand sich neben ihn setzte, öffnete er die Augen wieder. Sein Blick fiel auf einen Salvationistenanstecker.
„Brauchen Sie Hilfe?“, fragte die junge Frau. Sie hatte ihr Baby im Tragetuch vor dem Bauch.
Janus schüttelte den Kopf. „Ich muss nur zu Atem kommen, danke.“
Die Frau beobachtete ihn noch ein wenig, stand dann aber auf und ging weiter. Soweit kam es noch, dass Janus sich von einer Salvationistin helfen ließ. Allein, dass diese so genannte Bewegung sich wie eine Seuche verbreitete, machte sie verdächtig. Da brauchte es dann den Glauben an die Allmacht des Geldes gar nicht mehr, um ihn auf Abstand zu halten. Geld war eine Illusion. Es existierte in Wirklichkeit gar nicht. Es war bloß ein gigantisches System der Verschuldung. Wer konnte in diesen Zeiten noch so blöd sein, sich einer Sekte anzuschließen, die sich das Geschäftemachen noch auf die Fahnen schrieb? Wir sind ein Wirtschaftsunternehmen! Profitieren Sie!
Janus war immer noch schwindelig, und ihm wurde bewusst, dass er seit gestern Mittag nichts gegessen hatte. Nicht, dass man in seinem Alter noch viel brauchte, aber er war seitdem die meiste Zeit auf den Beinen gewesen, die Anstrengung war ungewohnt, und außerdem war er verletzt. Janus hätte in den Supermarkt gehen, sein PMC anschalten und sich etwas zu Essen kaufen können. Dann wäre er in einer halben Stunde wieder im „Mauerblick“ gewesen. Nein, so weit war er noch nicht. Er würde zu Alice gehen, obwohl sich alles in ihm dagegen sträubte. Sie würde ihn auch bloß ins Heim zurück bringen. Aber er würde Lura sehen. Und er würde verdammt noch mal eine Erklärung verlangen.
Janus kam mühsam auf die Füße. Bis in die Linienstraße war es nicht weit, aber Janus brauchte über eine Stunde dafür. Als er dort ankam, stellte er fest, dass Alices’ Name nicht an der Klingel stand. Sie wohnte nicht mehr hier.
Im einsetzenden warmen Regen war Janus einfach weiter gelaufen, ohne zu wissen, wohin. Bei einer Imbissbude blieb er stehen und aß die vom Regen aufgeweichten Chinanudeln, die jemand stehen gelassen hatte. Sollte er Alice anrufen? Und wenn sie wieder nicht ran ging? Dann wäre alles umsonst gewesen. Die Frau in der Imbissbude konnte kein Deutsch, aber sie schenkte Janus eine Fanta und ein Brötchen zu den Nudeln, und Janus nahm dankbar an. Obwohl sie ein Salvationistenplakat über ihrem Allesbrenner aufgehängt hatte.
Als Janus am Alex ankam, war es bereits dunkel geworden, und der Tauschring, der tagsüber zwischen den halb leer stehenden Shopping Malls florierte, hatte bereits geschlossen. Nur die verbeulten LCD-Folien, welche die Fassaden der Gebäude bedeckten, ergossen unermüdlich ihre Botschaften über den weiträumigen Platz. Unterhaltung, Werbung, Nachrichten. Eine Sondersendung: Die Salvationisten hatten heute die Schwelle von weltweit vierundzwanzig Millionen Mitgliedern überschritten. Nach nicht einmal vier Wochen seit dem Kickoff. Der nächste Milestone war eine Schulung aller Mitglieder in gewaltfreier Kommunikation. Und niemand schien die Lauterkeit ihrer Absichten in Frage zu stellen. Janus schüttelte fassungslos den Kopf. Vor der Weltzeituhr war eine überdimensionierte Digitaluhr mit dem Logo der Salvationisten aufgestellt. Sie zählte den Countdown bis zum 01.Januar 2032, bis zum Tag der endgültigen Erlösung. Nur fünf Jahre. Janus bekam Kopfschmerzen, wenn er darüber nachdachte. Er hoffte, dass sie scheitern würden.
Es regnete immer noch, aber Janus fand einen trockenen Platz unter einem parkenden Blutspendebus und legte den Kopf zum Schlafen auf seinen Rucksack. Die Jägermeisterflasche drückte ihn im Nacken, aber er war zu erschöpft, um sich noch einmal anders hinzulegen.
Janus wachte davon auf, dass ihm jemand in die Rippen trat. „He, Alter. Aufstehen, ich muss wegfahren. Hast Glück, dass ich dich überhaupt gesehen habe.“
Janus kam mühsam auf die Füße und trollte sich. Es dämmerte und der Platz wurde langsam lebendig. Menschen kamen mit Handkarren, Pritschenwagen und Bauchläden, einige hatten Fahrräder mit einer Ladefläche. Es gab Gemüse, Klamotten, Puppen, Messer, geschliffene Steine, Kaltlichtlampen, Universalladegeräte, Tücher, Küchenutensilien. Das meiste aus eigener Produktion. Wer hier kaufen wollte, brauchte Lexitaler, eine Spezialwährung, die nur für Mitglieder des Tauschrings galt. Man durfte hier weder ein Guthaben ansammeln noch Schulden machen, alles musste direkt umgesetzt werden. Janus liebte den Tauschring, man hatte echtes Geld in der Hand, man handelte, und Arbeit war Arbeit. Janus hatte diesen Platz schon geliebt, als er noch getrunken hatte, er konnte ganze Tage hier verbringen, in der Sonne schmoren und die Auslagen betrachten. Er musste sich dafür nicht einmal bewegen, denn die Auslagen kamen an ihm vorbei. Manchmal waren es auch junge Frauen und Männer, die sich selbst anboten, gegen Kost und Logis. Janus hatte einmal ein Mädchen mitgenommen, aber es war nicht gut gegangen.
Janus suchte sich einen Platz auf der Treppe an der Seite des Platzes. Er hatte keine Lexitaler. Der einzige Weg, an Geld zu kommen, wäre seine Jägermeisterflasche. Die LCD-Folien an der Fassade hinter ihm knatterten im Wind, aber wenigstens musste er nicht hinsehen, wenn er die Dinger im Rücken hatte. Sein Knöchel war blau geworden und schmerzte immer noch. Aber er glaubte, er war über den Berg. Nur die schneeweißen Zehen machten ihm Sorgen, er hatte kein Gefühl darin. Janus massierte sie kräftig, aber es nützte nichts. Genau genommen brauchte er einen diskreten Arzt. Wenn er seine Jägermeisterflasche geschickt eintauschte … aber irgend etwas in ihm sträubte sich dagegen. Er brauchte diese Flasche noch. Als Drohung, als letzte Rettung. Sie gehörte zu ihm, selbst wenn er nicht vorhatte, daraus zu trinken. Gerade deshalb brauchte er sie: Um nicht in Versuchung zu kommen. So lange sie da war, so lange sie voll war, konnte ihm nichts passieren. Seine Zehen waren nicht so wichtig, er würde sie ohnehin nicht mehr sehr lange brauchen. Und jetzt musste er darüber nachdenken, wie er Alice finden konnte, ohne sein PMC zu benutzen.
Janus ließ seinen Blick über den Platz schweifen. Zwei Meter von ihm entfernt wurden Lexitaler gegen Koks und Mettwurst getauscht, und dann ging eine Frau mit einem Bauchladen voller Sonnenbrillen vorbei. Hoch gewachsen, tiefschwarze Haut, ein kunstvolles, weißes Haargebilde auf dem Kopf, eine gelbe Plastikbrille an einer vergoldeten Kette, Jeans und ein gelbes Herrenhemd. Aber was Janus’ Blick fesselte, war nicht ihre Aufmachung, sondern die Kohlezeichnung, die sie in den Deckel ihres Bauchladens gepinnt hatte. Eine Kohlezeichnung von Lura.
Janus achtete nicht auf seinen Fuß und lief der Frau hinterher. „He, warten Sie!“
Die Frau drehte sich um, betrachtete ihn durch ihre Sonnenbrille und lächelte. „Sie sind aber aufgeregt und verzweifelt. Und voller mühsam verdrängter Schuldgefühle. Kann ich etwas für Sie tun?“
Janus war irritiert. Tätowierte er sich seine Gefühle neuerdings auf die Stirn? „Entschuldigen Sie, das Mädchen dort, das ist meine Enkeltochter. Wo haben Sie die Zeichnung her?“
Die Frau zuckte die Achseln. „Die mache ich selbst. Das hier hat der Kundin nicht gefallen. Es sah ihr zu ernst aus, sie wollte was Fröhliches. Für den Opa zum Achtzigsten. Das sind dann wohl Sie? Na, so was.“
Janus nickte. Sie hatte recht, Lura sah auf dem Bild ernst und traurig aus. Zu erwachsen. Irgend etwas ging nicht mit rechten Dingen zu.
„Wollen Sie sie?“
Janus nickte und schüttelte gleich darauf den Kopf. Die Zeichnung war nicht wichtig. „Wissen Sie, wo das Mädchen jetzt ist?“
Die Frau blickte Janus durch ihre Sonnenbrille prüfend an. „Oh je, ich sehe ein dickes, fettes Problem. Kommen Sie, wir setzen uns.“
Die Frau klappte ihren Bauchladen zu, nahm Janus beim Arm und gemeinsam setzten sie sich wieder auf die Treppe. Sie nahm ihre Sonnenbrille ab. Jetzt erst bemerkte Janus, dass sie mindestens sechzig sein musste. Sie war fantastisch in Form. „Hallo, ich bin Véronique“, sagte sie und streckte ihm die Hand hin.
„Janus. Danke, dass Sie sich Zeit nehmen. Die Sache ist wirklich wichtig für mich.“
Véronique winkte ab und zeigte ein strahlendes Lächeln. Janus war sich ziemlich sicher, dass es ihre eigenen Zähne waren. Schnell überprüfte er den Sitz seines Gebisses und wurde sich plötzlich bewusst, dass er sich seit zwei Tagen weder gewaschen noch rasiert noch seine Zähne gereinigt hatte. Wahrscheinlich stank er. Unwillkürlich nahm er etwas Abstand von Véronique, um sie nicht zu belästigen.
„Erzählen Sie.“
Und Janus erzählte, ohne Vorbehalt. Wenn sie ihn verpfeifen wollte, sollte sie es tun. Dann konnte er wenigstens sein PMC anschalten und Alice anrufen, dann kam es darauf auch nicht mehr an.
Als er fertig war, zog Véronique anerkennend eine Augenbraue hoch. „Ein alter Rebell, meine Güte. Aber ich bewundere das, ehrlich.“
Janus errötete leicht.
„Hier.“ Véronique öffnete ihren Bauchladen. „Probieren Sie die. Ich schenke sie Ihnen.“
„Meinen Sie?“ Janus mochte eigentlich keine Sonnenbrillen. Vor allem nicht bei trübem Wetter.
„Na los, Sie werden staunen!“
Janus griff nach dem Ray-Ban-Nachbau, den Véronique ihm hin hielt. Die Gläser waren viel zu schwer. Er grinste schief, aber als Véronique ihm aufmunternd zulächelte, setzte er sie auf – und schnappte überrascht nach Luft. Das Bild war insgesamt nur wenig dunkler, aber die Menschen auf dem Platz waren von intensiven Farbspielen umgeben. Unten im Blickfeld war eine Farbskala zu sehen, welche die gesamte Palette wieder gab.
Janus blickte Véronique an. Sie strahlte in einem satten Gold und neben ihrem Kopf erschien ein Schriftzug: zufrieden7plus
„Du bist zufrieden?“, fragte Janus unsicher.
Véronique kicherte. „Sehr sogar. Ich hab dich alten Knacker gerade zum Staunen gebracht. Das ist doch ein Grund zum Zufriedensein, oder?“
Der Übergang zum Du kam Janus natürlich und zwangsläufig vor, die Brille erzeugte eine ungeahnte Intimität. Es war, als könne er Véronique direkt in die Seele schauen.
„Wie funktioniert das?“
„Sie nennen es Aurabrille. Wird von der Polizei benutzt, um potentielle Unruhestifter aus dem Verkehr zu ziehen.“
Janus dachte an den Wachmann vor Luras Schule. „Sind deshalb die Gläser so schwer?“
Véronique nickte.
„Wo hast du sie her?“
„Es ist Hehlerware. Ich baue die Technik in billige Plastikbrillen ein. Ich kann ziemlich gut davon leben, weißt du?“
Janus nahm die Brille ab. „Woher weißt du, dass ich dich nicht verpfeife?“
Sie zuckte die Achseln. Er hatte Véronique vertraut, jetzt vertraute sie ihm, und Janus merkte, dass ihn das stolz machte. Véronique grinste immer noch, und in Janus begann es zu zucken. Das Gefühl kam ihm vage vertraut vor, bis er es als den Drang zu lachen erkannte. Er hatte schon ewig nicht mehr so gelacht.
Nachdem Véronique und er sich die Tränen abgewischt hatten, schlug sie vor, erst einmal zu frühstücken.
„Ich habe kein Geld.“
„Kein Problem, ich besorg uns was.“
Nach zehn Minuten war sie mit einer großen Flasche ionisiertem Luxuswasser und vier belegten Vollkornbrötchen wieder da. Es war köstlich. Und musste ein Vermögen gekostet haben.
Nach dem Essen wollte Janus die Brille zurückgeben und sich verabschieden, aber Véronique wollte nichts davon wissen.
„Wir müssen doch deine Enkelin finden.“
„Aber …“
„Ich habe sie gezeichnet. Ich hab gesehen, dass es dem Kind nicht gut geht. Ich fühle mich schuldig, weil ich sie habe gehen lassen. Und dass ich dich jetzt treffe, ist ein Zeichen. Man muss Verantwortung übernehmen.“
Janus fiel es schwer, ihre Hilfe anzunehmen. Andererseits war Véronique so bezaubernd und ehrlich. Er fühlte sich beinahe jung, als er mit ihr zusammen auf den Stufen saß und Brötchen aus der Hand aß.
„Ich habe genügend Zimmer. Du schläfst dich erst mal richtig aus. Und dann sehen wir weiter.“ Véronique fummelte einen Schlüssel aus ihrer Jeanstasche und gab ihn ihm. „Großbeerenstraße 18, vierter Stock. Nimm das Zimmer ganz hinten rechts.“
Janus sah Véronique fassungslos an. „Du gibst mir einfach so deinen Wohnungsschlüssel? Einem wildfremden Kerl?“
„Ich muss noch arbeiten, und ich habe genug gesehen um zu wissen, dass ich dir vertrauen kann.“ Véronique warf einen Blick durch ihre Plastiksonnenbrille und zwinkerte ihm dann über den Rand hinweg zu.
„Nimm dir ne Rikscha. Hier.“ Véronique reichte ihm einen Gutschein vom Asylamt.
Janus war erneut beeindruckt. „Wo hast du denn den her?“
„Das lass mal meine Sorge sein.“
Véronique winkte und drehte sich um, um mit ihrem Bauchladen wieder ihre Runden zu drehen. Janus sah ihr nach, bis sie in der Menge verschwunden war. Ihr kleiner, spitzer Hintern saß immer noch knackig in der Jeans. Was für ein Weib. Janus winkte nach einer Rikscha.
In Véroniques Wohnung hingen großformatige Bilder an den Wänden, auf denen Menschen von fließenden Farbwirbeln umgeben waren. Véronique malte, was sie durch ihre Brillen sah. Er zog seine falsche Ray Ban aus der Jackentasche, setzte sie auf und blickte sich um. Die Wohnung war riesig – und leer. Bis auf einen warmen, lebendigen Fleck in der Küche. Eine Katze lag auf einem Sofa in der Ecke und hatte sich in ein paar milchigen, durchs Fenster hereinfallenden Sonnstrahlen zusammengerollt. Sie strahlte violett. Das Display der Brille projizierte Thetazustand neben den Kopf der Katze. Janus wusste nicht, was das bedeutete, und die Brille antwortete unmittelbar mit einer Erklärung: Hirnwellenmuster, das Meditationszustände begleitet. Die Brille schien nicht nur den geistig-emotionalen Zustand anderer Lebewesen aufzunehmen, sondern auch seinen eigenen. Ein gefährliches Instrument, wenn man es missbrauchte.
Janus nahm die Brille ab und rieb sich die Nasenwurzel. Dann öffnete er den Kühlschrank, entdeckte Hummus und eine kleine Cantaloup-Melone, teures Zeug. Besser, wenn er nichts davon anrührte. Statt dessen duschte er, nahm seine Zähne heraus und putzte sie gründlich, rasierte sich, zog frische Unterwäsche an und stopfte die dreckigen Sachen in die Waschmaschine. Im Wandschrank im Bad fand er eine Sportsalbe und eine elastische Binde, die er sich um den Knöchel wickelte. Dann endlich legte er sich auf die Gästematratze, die am Ende des Flurs in einem freundlichen Zimmer auf dem Dielenboden lag.
Janus hörte Schritte in der Wohnung, vor dem Fenster war es bereits dunkel. Schnell stand er auf, zog sich an und ging in die Küche. Véronique saß vor der geöffneten Balkontür und rauchte.
„Gut geschlafen?“
Janus kratzte sich etwas verlegen am Kopf. „Ja, Danke.“
„Hast du Hunger?“ Janus nickte. „Gut. Es gibt Heuschrecken. Mit Erdnusssoße. Du kannst schon mal Wasser in der Pfanne heiß machen.“
Janus hatte noch nie vorher Heuschrecken gegessen, aber sie schmeckten köstlich. Knusprig, salzig, fettig. „Wohnst du hier allein?“
Véronique leckte sich Soße vom Finger und nickte. „Bis auf Katze. Das ist ihr Name.“
„Du musst ganz schön Asche haben.“
Véronique zuckte die Achseln. „Ja, schon. Gib mir mal dein PMC.“
Janus reichte es ihr. „Wir dürfen es nicht anschalten, damit ich nicht geortet werden kann.“
„Ich weiß, aber wir müssen an die Kontakte.“ Véronique drehte das PMC in den Händen. „Mist, ein Billigprodukt. Die kann man nicht aufmachen, wenn was kaputt ist.“ Sie schlug es einmal fest auf die Tischkante. Janus entfuhr unwillkürlich ein kleiner Schrei, aber er klang weniger erschrocken, sondern beinahe triumphierend. Das Gehäuse war aufgebrochen, und Véronique pulte mit der Gabel einen Chip aus den Eingeweiden. Janus musste gegen seinen Willen grinsen. Jetzt war er wirklich vom Rest der Welt abgeschnitten, ein Nichts und Niemand, ohne Geld, ohne Identität, ohne Netzzugang, ohne alles.
„Keine Sorge, wir besorgen dir was Neues. Brauchste den Rest noch?“, wollte Véronique wissen. Janus verneinte und sie stand auf und warf das PMC in den Müllzerkleinerer. „Komm mit.“
Das Zimmer war groß, mit zwei Fenstern, und es war dick mit Teppichen ausgelegt. Eine Matratze gab es nicht, aber in einer Ecke lagen zusammengerollte Decken und ein paar dicke Kissen. An den Wänden auch hier Véroniques Aurabilder, ein paar antike antirassistische Plakate und ein Regal mit richtigen Papierbüchern. Janus blieb unschlüssig stehen, die Hände in die Jeanstaschen vergraben, während Véronique sich im Schneidersitz auf den Teppich setzte, den Chip in ein nicht personalisiertes MC steckte und die Kontakte aufrief. Sie schrieb die Nummer per Hand ab.
Dann wählte sie Alices Nummer mit ihrem PMC und gab es Janus. Er wartete, aber nach ein paar mal Klingeln ging wie erwartet die Mailbox dran: „Hallo, ich bin gerade nicht zu sprechen. Hinterlasst mir eine Nachricht, ich rufe zurück.“
„Hallo Alice. Hier Papa noch mal. Ich habe mich gefragt, na ja, ich hatte Geburtstag, ich mache mir Sorgen. Wo steckt Ihr? Bitte ruf die Nummer an, von der ich angerufen habe, ja?“
Janus wollte schon auflegen, als eine weitere Automatenansage kam: „Danke für Ihren Anruf, Sie werden jetzt weitergeleitet.“ Dann sagte eine weitere Stimme: „Hallo, mein Name ist Linda, Sie möchten den Salvationisten beitreten?“
„Ähm, nein. Wie kommen Sie denn da drauf?“
„Bitte warten Sie einen Moment.“
„Nein, ich wollte …“
Linda hatte Janus bereits weg geschaltet und er blickte das PMC fassungslos an. Wieso wurde er von Alice’ Anschluss zu den Salvationisten weiter geleitet? Plötzlich zeigte das Display die Homepage der Salvationisten. Ein Werbefilm wurde abgespielt.
Véronique blickte ihm neugierig über die Schulter. „Huh, den kenne ich noch nicht!“, sagte sie, nahm das PMC und schob den Deckel des Objektivs zur Seite. Als sie das PMC auf ein Regalbrett stellte, wurde das Bild an die Wand geworfen.
Wieder diese überirdisch schönen Ichhabdieweisheitmitlöffelngefressen-Gesichter. Janus stöhnte. „Mach das aus!“
Véronique kicherte. „Warte doch mal.“
„Wir sind keine Sekte. Unser Motto lautet: jeder, was er kann, jeder, wie er kann, und jeder, wie viel er kann. Was uns verbindet ist nicht Ideologie oder Religion, sondern ein gemeinsames Ziel: Das Ende von Krieg, Hunger und Zerstörung unserer Welt bis zum 01. Januar 232. Unsere Methode: konsequent gewaltfreie Kommunikation. Die Schulungen sind für Sie selbstverständlich kostenfrei.“
Während die Stimme weiter sprach, zeigte der Bildschirm die Features, die erklärt wurden:
„Dies ist unser Vernetzungscenter. Hier geben Sie ein, welche Art von Beitrag Sie leisten wollen, und unsere Datenbank sucht dann nach Partnern in Ihrer Nähe. Außerdem werden Sie mit einem Mentor vernetzt. Er wird ihren Beitrag nach seiner Nützlichkeit bewerten, er wird Ihnen Rückmeldung über die konkrete Auswirkung und den Erfolg Ihres Beitrags geben und Sie auf ähnliche Beiträge aufmerksam machen. Tägliche Rankings erlauben Ihnen, genau zu sehen, wo Sie stehen.“
Das Bild wechselte, die Sprecherin war wieder da. „Was Sie davon haben? Sie werden sich – vielleicht zum ersten mal in Ihrem Leben – nützlich fühlen. Sie werden wissen, was Sie bewirken können, Sie werden erleben, wie die Welt sich verändert. Sie werden Teil der größten Reformbewegung aller Zeiten sein. Und in fünf Jahren können Sie sagen, ich war von Anfang an dabei.“
Eine Eingabemaske ging auf. „Bitte melden Sie sich hier an. Es wird sich sofort jemand in Ihrer Nähe um Sie kümmern.“
Janus kochte vor Wut. „Die sind so was von penetrant!“
Véronique schaltete den Beamer aus und steckte ihr PMC in die Tasche. Sie wirkte nachdenklich.
„Ich finde das gar nicht so uninteressant. Wenn man ihnen glauben kann, dann vernetzen sie, aber sie benutzen kein weltanschauliches Dogma oder so.“
„Was ist mit dieser gewaltfreien Kommunikation?“
„Ja, gute Frage.“ Dann zwinkerte sie ihm zu. „Aber so lange es nichts kostet. Es wäre schon interessant, mal zu sehen, mit welchen Methoden die eigentlich arbeiten.“
„Interessant ist daran nur, wie diese scheiß Werbung auf Alice’ Mailbox kommt.“
Véronique machte es sich in ihren Kissen bequem. „Das ist doch nicht schwer zu erraten.“
Janus sah sie verständnislos an. „Wieso?“
„Na, sie wird wohl bei den Salvationisten sein.“
„Meine Tochter?!“
Janus hatte Alice nicht gerade gründlich oder fürsorglich erzogen, das musste er zugeben. Aber er hatte ihr beigebracht, dass man gegen jede Art von medialer Hirnwäsche Widerstand leisten musste. Man durfte sich nicht einlullen lassen, man musste selbst denken. Man durfte nie aufhören, selbst zu denken.
„Setz dich mal zu mir.“ Véronique lächelte Janus einladend an. „Du siehst schrecklich verspannt aus.“
Janus’ Wut verwandelte sich plötzlich in ein Kribbeln in der Lendengegend. Auch das hatte er seit Jahren nicht verspürt. Etwas steifbeinig ließ er sich nieder und Véronique begann, mit geübten Griffen seinen Nacken und seine Schultern zu massieren. „Ich habe schon ein paar Sachen über die Salvationisten gehört“, fing sie wieder an, „Sie arbeiten mit Businessmethoden, es geht um Profit.“
„Genau das mag ich nicht an ihnen.“
„Nur angeblich geht es um Profit für alle. Jeder soll etwas davon haben. Mikrokredite, nachhaltige Entwicklung, Regionalwirtschaft, Partizipation, … du weißt schon.“
„Und wer entwickelt da wen?“
„Na, die Leute entwickeln sich selbst. Schließlich geht es darum, selbst die Verantwortung zu übernehmen.“
„Falsch, das Geld entwickelt die Leute. Mit Mikrokrediten und so was tragen wir das Geldsystem noch in den allerletzten Winkel der Welt. Es wird dann keinen einzigen Ort mehr geben, der frei davon ist, keinen Platz mehr, wo man noch hingehen kann.“ Janus war plötzlich den Tränen nah. Er schüttelte Véroniques Hände ab.
Véroniques Stimme klang sanft, ihr Atem streichelte sein Ohr. „Aber das ist doch längst geschehen, Janus. Das kann doch keiner mehr verhindern.“
„Aber das ganze beschissene Geldsystem ist eine Illusion! Es gibt eigentlich gar kein Geld. Es gibt nur Schulden. Aber das soll keiner merken.“
Véronique ging nicht darauf ein und begann stattdessen, seinen Lendenwirbelbereich zu massieren. Janus bekam eine Erektion, er konnte kaum glauben, dass ihm so etwas in seinem Leben noch einmal passierte.
„Komm, zieh dich aus“, sagte Véronique mit plötzlich rauer Stimme. Und das tat er, und sie wies ihn nicht zurück.
Véronique riss die Fenster auf und ließ kühle, frische Luft herein. Janus hatte mit ihr zusammen zum ersten mal seit Jahrzehnten einen Joint geraucht, und auch das konnte er noch. Er fühlte sich beinahe glücklich. Wenn da nur die Sorge um Lura nicht gewesen wäre. Er lag nackt auf dem Rücken und starrte an Véroniques Zimmerdecke. Die Nachtluft, die durchs Fenster herein kam, überzog seinen Körper mit einer Gänsehaut, und er griff nach einer Decke. Véroniques Haut sah aus wie mit Airbrush gemalt: Samtig, leuchtend, glatt. Am Hals sah man ein paar Falten, und die Brüste waren ein wenig welk. Aber so sahen manche Frauen auch mit Mitte dreißig schon aus. Keine Arthrose, keine Hammerzehen, keine Alters-Obeine, von denen er im „Mauerblick“ jeden Tag etliche Paare sah. Keine Altersflecken, keine Lipome unter der Haut, keine Krampfadern.
„Wie alt bist du eigentlich?“
„Zweiundsiebzig.“
„Das ist nicht dein Ernst. Wie machst du das?“, frage Janus.
Man sah es Véronique nicht an, falls sie sich geschmeichelt fühlte. Wahrscheinlich wusste sie, wie jung sie wirkte. „Ich ernähre mich gut, ich schlafe hart. Ich bin ehrlich zu mir selbst. Und ich tue, was ich wirklich will.“
Janus stützte sich auf einen Ellenbogen. „Das ist auch mein Motto: Tu immer nur das, was du wirklich willst. So bleibe ich trocken.“
„Siehst du, und deshalb bist du auch noch ganz knackig für so einen alten Knacker.“ Véronique kuschelte sich unter der Decke an ihn und fing an, ihn zu streicheln. „Und was willst du jetzt wirklich?“
Janus lachte. „Na, ein bisschen Zeit musst du mir schon lassen, fürchte ich.“
„Na gut. Was machen wir inzwischen?“
Janus zuckte die Achseln. „Schlag du was vor.“
„Gut. Dann treten wir den Salvationisten bei.“
Janus lachte erneut, aber Véronique sah ihn durchdringend an. „Ich meine das ernst, Janus.“
„Komm schon, erzähl keinen Quatsch.“
„Erstens – immer mehr Leute machen mit, auch Prominente. Ich will wissen, was dahinter steckt. Von außen erfährt man nicht wirklich etwas über diese Leute und wie sie drauf sind. Vielleicht ist alles Bullshit, das werden wir dann in fünf Jahren wissen. Oder sie haben recht. Zweitens – es ist auf jeden Fall ist es eine Möglichkeit, an Alice und damit auch an Lura ran zu kommen, oder?“
Janus versteifte sich. „Bitte, Véronique, verstehst du denn nicht?“
„Nein, was?“
„Jeder macht, was er immer macht, klebt den Aufkleber „ich rette die Welt“ drauf und fühlt sich als guter Mensch, egal, was er für einen Scheiß macht. Klar zieht das Promis an. Es ist gute Publicity.“
„Da sage ich ja auch gar nichts gegen, oder?“
Janus ließ sich nicht beirren. „Du könntest auch zum Beispiel… “, Janus ruderte etwas hilflos mit den Armen, „zum Beispiel weiter Hehlerware verkaufen und sagen, das sei zu einem guten Zweck.“
„Ist es ja auch.“
„Wenn du das im Dienst von Salvationisten machst? Das ist doch nicht dein Ernst.“
Véronique wollte etwas erwidern, doch dann hielt sie inne, dachte nach. „Ja, das könnte die tatsächlich interessieren, oder?“
„Du willst denen eine solche Technologie in die Hände spielen? Reicht es nicht, dass die Bullen so was haben?“
Véronique sprach mehr zu sich selbst als zu Janus. „Man kann damit Wut sehen. Gewaltbereitschaft.“
„Aber Wut ist nicht schlecht. Wut ist manchmal gerecht und notwendig.“
„Die Salvationisten sagen, was wir brauchen, ist mehr Liebe in der Welt. Nicht mehr Wut. Ihre Methode ist konsequent gewaltfreie Kommunikation.“
Janus lachte bitter. „Genau, stecken wir die Wütenden in den Knast und der Rest der Welt hat sich lieb.“
Véronique schlug die Decke zurück und stand auf. „Du weißt, dass es so nicht gemeint ist.“
Janus versuchte, sich ein wenig zu beruhigen. Véronique reizte ihn mit Absicht, sie wollte ihn herausfordern. Es war ihr nicht ernst damit. „Na gut. Aber wir müssen doch realistisch bleiben. Man kann die Welt nicht in fünf Jahren retten.“
Véronique zuckte die Achseln. „Wer weiß?“, sagte sie leichthin. Dann stemmte sie die Hände in die Hüften und sah Janus von oben herab an. „Bist du zu feige, es wenigstens zu versuchen? Wir sollten es tun. Und zwar jetzt gleich. Wer weiß, wie viel Zeit uns noch bleibt.“ Damit griff sie nach ihrem PMC und ging auf die Salvationistenseite.
„Véronique, bitte.“
Sie trug auf Aufforderung ihren Namen, ihren Wohnort, ihre persönlichen Interessen und Fähigkeiten ein.
„Bitte, Véronique. Lass es.“
Sie trug einen monatlichen Beitrag ein, den sie auf das Konto der Salvationisten überweisen wollte.
„Du gibst dich völlig in ihre Hände.“
Véronique sah Janus nicht an. „So, glaubst du das?“
Sie drückte ihren Daumen auf das Display und bestätigte ihre Angaben.
„Herzlichen Glückwunsch. Sie sind nun Teil der Salvationistenbewegung. Gleich wird jemand Kontakt mit Ihnen aufnehmen.“
Janus schüttelte den Kopf. Er fühlte sich bitter enttäuscht. Keine Minute später klingelte Véroniques PMC.
„Véronique Malé hier. Genau. Ich denke, ich habe etwas für Sie, das Sie interessieren könnte. Aber vorher brauche ich einen persönlichen Termin und ein paar Informationen. Ja, ich warte.“
Janus stand leise auf, raffte seine Sachen zusammen und ging.
Als er auf die Straße trat, öffnete sich über ihm ein Fenster.
„Janus! Du verstehst das falsch, kommt zurück!“
Aber er konnte einfach nicht.
Janus heulte vor sich hin, während er durch den Regen humpelte, den Rucksack auf den Schultern. Er konnte sich nicht erinnern, wann er zuletzt geheult hatte. Seine dreckigen Sachen waren noch bei Véronique in der Waschmaschine, seine Zahnbürste lag auf der Duschablage. Und sie hatte noch den Chip mit Alice’ Nummer und seine falsche Ray Ban. Er hätte nicht so überstürzt aufbrechen dürfen. Vielleicht hätte er sie doch noch überzeugen können. Aber vielleicht hatte er auch Angst, dass sie am Ende ihn überzeugte.
Janus musste an den Jägermeister denken. Er sollte ihn weg schütten, in seiner momentanen Stimmung konnte er ihm zur Gefahr werden. So viel er auch darüber nachdachte, ihm fielen nur zwei Alternativen ein, mit der Situation umzugehen: Sie auszuhalten oder sie in Alkohol zu ertränken. Am besten für immer.
Wenn da nicht noch Lura gewesen wäre. Janus machte sich mehr Sorgen denn je, und ja, er machte sich auch Vorwürfe. Véronique war ein guter Mensch, ein mutiger und ehrlicher Mensch. Sie hatte recht, er war feige. Vielleicht hatte sie mit der anderen Sache auch recht. Doch bei dem Gedanken daran schüttelte Janus unwillig den Kopf. Er konnte es nicht wirklich logisch begründen, aber er wusste, irgendetwas war gründlich falsch an der Sache. Er konnte nicht glauben, dass die Salvationisten ehrliche Motive hatten.
Es war kalt geworden, und der Regen wuchs sich zu einem der typischen Frühjahrsunwetter aus, die Straßen standen Knöcheltief unter Wasser. Janus sah ein paar Ratten um ihr Leben paddeln. Er selbst war nass bis auf die Haut, seine Lederjacke war ruiniert, aber wenigstens dämpfte das kalte Wasser den Schmerz in seinem Fuß. Es spielte keine Rolle, dass er nicht wusste, wo er hin gehen sollte. Er war niemand mehr, und niemand brauchte auch keinen Platz, an den er gehen konnte.
Auf der Yorckstraße traf Janus auf einen Menschenzug. Sie trugen Transparente mit dem Logo der Salvationisten und dem Slogan „Wir tragen eure Bürde“, und sie hatten einen an- und abschwellenden Singsang angestimmt, den Janus schon kannte. Als er sich dem Büßerzug näherte, sah er, dass die Leute alle kahl geschoren waren. Sie schlugen sich selbst mit langen, schmalen Messern auf den Kopf. Janus hörte, wie das Fleisch nass auseinander klaffte, und er sah, wie Blut sich mit Regenwasser mischte und in Augen und geöffnete Münder lief. So viel zum Thema Gewaltfreiheit, dachte er bitter. Manche griffen sich mit den Händen in die offenen Wunden und spreizten sie, und Janus musste einen spontanen Brechreiz unterdrücken, als neben ihm eine schmale Frau vor Schmerz zusammenbrach. Zwischen dem zerhackten Fleisch sah er ihren Schädelknochen hindurchschimmern. Die anderen beachteten sie nicht und zogen weiter.
Das Wasser stand so hoch, dass die Frau zu ertrinken drohte, wenn sie nicht bald wieder aufstand. Was hatte Véronique zu ihm gesagt? Mann musste Verantwortung übernehmen. Janus überwand seinen Ekel und beugte sich hinab. Als er die Frau zu sich umdrehte und in ihr Gesicht blickte, widerstand er dem Impuls, sie zu schlagen. Es war Alice.
Sie blickte Janus verständnislos an, dann drehte sie sich erschrocken nach dem Büßerzug um, der schon ein Stückchen weiter die Straße hinunter war.
„Alice, was machst du hier? Wo ist Lura?“
„Die Demo.“
Alice wollte aufstehen, aber Janus hielt sie fest und schüttelte sie. „Wo ist Lura?“
Alice war noch jung, sie war stärker als Janus, trotz der tiefen Wunde auf ihrem Kopf, trotz des Blutverlusts, und sie war mindestens so entschlossen wie Janus. Sie riss sich los, kam auf die Füße und taumelte dem Büßerzug hinterher.
Janus brüllte ihr hinterher. „Wo ist Lura?!“
Alice reagierte nicht.
Janus wusste genau, was er morgen tun würde. Er würde zu Véronique gehen, sie um Verzeihung bitten und den Salvationisten beitreten. Um Lura zu finden. Nur darum. Und er wusste auch, was er heute tun musste, um morgen den Mut dazu zu finden.
Janus ging ins Löwenjoe und begann mit Bier. Nach dem dritten fühlte er sich beinahe stark genug. Simon schlug ihm anerkennend auf die Schulter und begleitete ihn zur Tür. „Machs gut, Alter. Bis morgen vielleicht.“
Janus hob lässig die Hand zum Gruß und machte sich auf den Weg Richtung Prenzlauer Berg. Er durchquerte den Park, setzte sich auf die Bank vor dem „Mauerblick“, öffnete seinen Rucksack und zog den Jägermeister zwischen seinen völlig durchnässten Sachen hervor.
Er brauchte lange, um die Flasche zu leeren. Er durfte es nicht überstürzen, sonst würde er kotzen müssen. Wenigstens wurde ihm warm davon. Und dann wurde es dunkel.
Man zog ihn aus, wusch ihn, legte ihn auf eine fahrbare Liege. Im Vorbeifahren erkannte er die Stationsnummer. Es war die Vierzehn, das waren die Pflegefälle. Von hier gab es kein Zurück mehr. Janus wollte protestieren, sein Zimmer war auf Station Eins. Aber er stellte fest, dass es nicht ging. Er konnte sehen und hören, aber er konnte seinen Körper nicht benutzen. Er hatte vergessen, wie man ihm Befehle gab. Er konnte nicht einmal die Augen schließen.
Er wurde in ein Zimmer geschoben und stehen gelassen. Ohne Erklärung. Nach einer Weile kam eine Pflegerin, sie kam Janus vage bekannt vor, und träufelte ihm etwas Kochsalzlösung in die geöffneten Augen, damit sie nicht austrockneten.
Als nächstes wurde er an einen Tropf gehängt. Eine Magensonde. Ein Katheter für Urin. Ein Monitor. Janus lag wie ein Stein in seinem Körper. Es war hell, er wusste, wer er war, er fühlte Schmerz. Aber er konnte keine Verbindung herstellen. Er konnte nicht einmal lallen. Seine Hände lagen vor ihm auf der Bettdecke, in Pfötchenstellung wie bei einem Schwachsinnigen.
Tage folgten auf Nächte folgten auf Tage. Sein Zustand veränderte sich nicht. Er wusste nicht einmal, wie man seinen Zustand nannte, denn niemand sprach mit ihm. Oft fragte er sich, ob der 01.Januar 2032 schon hinter ihm lag oder noch vor ihm.
Dann, an einem Tag, als seine aufgerissenen Augen das erste zarte Grün an der Birke vor dem Fenster angestarrt hatten, bis die Umrisse der Blätter sich unauslöschlich in seine Netzhaut eingebrannt hatten, ging die Tür auf und Lura kam herein. Gefolgt von Véronique.
Janus wollte lachen, und er hätte so gerne ihre Hand genommen, hätte so gerne über ihr Haar gestreichelt, über Luras und auch über Véroniques. Sie hatten so unterschiedliches Haar. Lura hatte seins. Er hätte ihr so gerne wenigstens zugezwinkert. Aber seine Augen blickten starr geradeaus, die Lider weit geöffnet, schutzlos vor dem zu grellem Licht. Véronique setze ihre gelbe Sonnenbrille auf. Dann lächelte sie.
„Hallo Janus. Wie ich sehe, geht es dir nicht allzu schlecht. Du freust dich über unseren Besuch. Ich habe ziemlich lange gebraucht, um dich hier zu finden. Sie wollten uns erst gar nicht rein lassen. Sie meinten, du kriegst eh nichts mehr mit. Aber das stimmt offensichtlich nicht.“
Véronique nahm seine Hand. Es war ihm peinlich, dass sie nach wie vor in dieser würdelosen Haltung verkrümmt war.
„Es muss schrecklich sein, so allein da drin.“
Er wollte sich bei ihr entschuldigen, er wollte alles tun, was sie wollte, wenn sie ihn nur hier heraus holte.
Lura kam näher. Wie hübsch sie geworden war. Sie sah ein wenig verstört aus, aber nicht so schlimm, wie Janus das erwartet hätte, wenn die eigene Mutter durchgedreht ist.
„Hallo, Opa.“
Wie ging es ihr, was war mit Alice, was geschah jetzt? Janus hatte Tausend Fragen und Véronique sah es. Sie zog sich einen Stuhl heran und setzte sich.
„Also. Lura war nicht schwer zu finden, die Polizei hatte sie von der Straße aufgelesen und in ein Heim gesteckt. Und deine Tochter … ich weiß nicht. Sie ist irgendwie durchgedreht. Aber das gibt es überall, das hat eigentlich nichts mit den Salvationisten zu tun.“ Véronique streichelte Janus’ schlaffe Wange. „Weißt du, du hast das damals in den falschen Hals bekommen. Ich hatte mich natürlich mit einem frisierten PMC angemeldet. Ich wollte nicht wirklich Mitglied werden. Ich wollte nur die Informationen. Aber seitdem hatte ich viel Zeit zum Nachdenken. Die Sallis haben wirklich ein gutes Netzwerk aufgebaut. Sehr effektiv. Und ich habe das Gefühl, wirklich etwas bewirken zu können. Lura wohnt bei mir, und sie arbeitet auch schon ganz tüchtig mit. Wir machen mindestens vierzig Brillen am Tag. Für die Mentoren, stimmts?“ Lura nickte und lächelte schüchtern. „Nein, du musst jetzt nicht gleich wieder ärgerlich werden, Janus“, sagte Véronique bestimmt.
Janus konzentrierte seinen ganzen Willen, um seine Wut ausdrücken zu können. Nur Véronique konnte durch ihre sonnengelbe Brille sehen, was in ihm vorging. „Es tut mir schrecklich Leid, was mit dir passiert ist. Aber das ist allein deine Schuld. Du hattest deine Chance.“
Plötzlich wich Janus’ Wut dem intensiven Wunsch, erlöst zu werden. Er wollte nicht mehr. Véronique sah ihn mitleidig an.
„Die Erlösung kommt 2032, Janus. Ich fürchte, so lange musst du dich gedulden. Töten – das kann ich nicht.“ Sie stand auf und küsste ihn auf die Stirn. Dann zog seine falsche Ray Ban aus der Handtasche und setzte sie ihm auf. „Machs gut, Janus. Und mach dir keine Sorgen, wir kümmern gut uns um Lura.“
Lura winkte zum Abschied. „Tschüss, Opa.“ Sie strahlte in einem zarten, geborgenen Grün.
Karla Schmidt am Januar 11th 2016 in Leben schreiben